Es gibt keine zwei Gehirne, die sich gleichen.
Unser Nervensystem wird von tausenden Genen beeinflusst, was dazu führt, dass jedes menschliche Gehirn einzigartig ist. Im Gegensatz zu offensichtlichen Merkmalen wie der Hautfarbe, die durch nur wenige Gene bestimmt wird. Somit variieren die Funktionsweisen unseres Gehirns auf tiefgreifende und vielfältige Weise. Diese Unterschiede sind nicht nur Teil unserer biologischen Natur, sondern werden auch durch unsere Lebenserfahrungen kontinuierlich geformt.
Entstehen Schwerieigkeiten durch diese Unterschiede, beispielsweise in der Schule, wenn ein Kind nicht ruhig sitzen kann oder im Job, wenn eine Person sich mit dem Priorisieren schwer tut, sondern durch die Reaktion der Umwelt darauf. Dem Kind wird vermittelt, dass man ruhig sitzen können muss und dem oder der Arbeitnehmer:in wird vermittelt, er oder sie müsse sich mehr anstrengen, um die Aufgaben endlich „in der richtigen Reihenfolge“ abzuarbeiten.
Wenn wir anfangen, die Vielfalt menschlicher Gehirne und Denkweisen zu akzeptieren, können wir Räume schaffen, in denen alle Menschen – mit ihren individuellen Stärken und Schwächen – ihr Potenzial entfalten können. Vielleicht ist Anderssein das neue Normal, und es wird Zeit, dass wir unsere alten Vorstellungen von „Normalität“ hinterfragen.
In diesem Artikel wollen wir einen tieferen Blick auf das Konzept der Neurodiversität werfen, den Unterschied zur Neurodivergenz betrachten Beispiele für neurodivergente und erörtern, welche Vorteile eine neurodiverse Gesellschaft hat – und welche Folgen es haben kann, wenn wir diese Vielfalt nicht anerkennen.
Was bedeutet Neurodiversität?
Neurodiversität ist ein Begriff, der in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Sie beschreibt die natürliche Vielfalt des menschlichen Gehirns und der neurologischen Funktionen. Der Begriff entstand in den 1990er Jahren und wurde zunächst von der autistischen Community geprägt. Er beschreibt die Idee, dass neurologische Unterschiede wie Autismus, ADHS, Dyslexie oder Hochsensibilität nicht als Defizite oder Störungen betrachtet werden sollten, sondern als normale und wertvolle Varianten menschlicher Funktionsweise.
Menschen sind in vielen Bereichen divers – sei es durch Geschlecht, Ethnie, kulturellen Hintergrund oder eben ihre neurologische Funktionsweise. Neurodiversität schließt also alle Menschen ein.
Neurodiversität oder Neurodivergenz
Für die beiden Begriffe gibt es keine eindeutige Definition, da es sich weder um Diagnosen, noch um wissenschaftliche Begriffe handelt. Für mich (und viele andere Experten) ist Neurodiversität ein Inklusionsbegriff – dieser beinhaltet also alle Menschen und meint, dass all unsere Gehirn unterschiedlich verdrahtet sind.
Neurodivergenz hingegen ist eine Bezeichnung des Anders seins – dafür dass sich die Funktionsweise eines Gehirns von dem unterscheidet, was gesellschaftlich erwartet würde – also des Neurotypischen (oder Neuronormativen). Auch dieser Begiff wurde in den 90er Jahren in der autistischen Community geprägt. Heute wird er je nach Definition für unterschiedliche Abweichungen des Neurotypischen verwendet; Autismus, ADHS, Dyslexie, Dyskalkulie, Dyspraxie, Hochbegabung, Hochsensibilität, Synästhesie, Afantasie, usw.
Es gibt auch viele Menschen, welche in das neurodivergente Spektrum gehören, welche sich lieber als neurodivers bezeichnen.
Welche Vorteile bringt es, wenn die Gesellschaft toleranter für Neurodiversität wird?
Eine Gesellschaft, die neurodivergente Menschen akzeptiert und ihre einzigartigen Fähigkeiten fördert, bringt Vorteile, die weit über den wirtschaftlichen Nutzen hinausgehen:
- Erhöhte soziale Gerechtigkeit und Inklusion
Indem wir neurologische Unterschiede akzeptieren, schaffen wir eine gerechtere Gesellschaft, in der jeder Mensch unabhängig von seiner neurologischen Funktionsweise geschätzt wird. Neurodivergente Menschen fühlen sich als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft, was zur Reduzierung von Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung führt. - Mehr Empathie und Verständnis
Die Akzeptanz von Neurodiversität fördert ein tieferes Verständnis für die Vielfalt menschlicher Erfahrungen. Eine Gesellschaft, die sich auf Toleranz und Empathie konzentriert, wird offener und unterstützender gegenüber allen Formen der Andersartigkeit, was das Zusammenleben harmonischer und reicher macht. - Gesellschaftliche Resilienz und Kreativität
Durch die Einbeziehung unterschiedlicher Denkweisen wird die gesellschaftliche Resilienz gestärkt. Verschiedene Perspektiven können zur Lösung komplexer sozialer Probleme beitragen und neue innovative Ideen in Bereichen wie Bildung, Wissenschaft und Kunst hervorbringen. Eine neurodiverse Gesellschaft ist besser gerüstet, um den Herausforderungen einer sich schnell verändernden Welt zu begegnen.
Was passiert, wenn wir unsere unterschiedlichen Arten zu denken ignorieren?
Die Folgen einer fehlenden Anerkennung von Neurodiversität sind gravierend – sowohl für die betroffenen Individuen als auch für die Gesellschaft als Ganzes.
1. Verlust von Potenzial
Wenn Menschen dazu gezwungen werden, sich an neurotypische Standards anzupassen, verschwenden sie wertvolle Energie darauf, ihre Eigenheiten zu unterdrücken, anstatt ihre Stärken zu entfalten. Dies führt oft dazu, dass ihre Potenziale nicht vollständig genutzt werden können, was sowohl die Betroffenen selbst als auch Unternehmen und Organisationen belastet.
2. Psychische Belastung
Der Druck, den gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen, kann neurodivergente Menschen stark belasten. Viele leiden unter Stress, Ängsten und Depressionen, da sie das Gefühl haben, nicht „normal“ zu sein oder ständig unter ihren Möglichkeiten zu bleiben. Dies kann langfristig zu Burnout und anderen gesundheitlichen Problemen führen.
3. Fehlende Inklusion und Exklusion
Wenn Schulen, Unternehmen und Institutionen nicht auf die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen eingehen, führt dies zur Ausgrenzung dieser Personen. So kann es passieren, dass Talente bereits in der Schulzeit verloren gehen, weil das Bildungssystem zu rigide ist, um auf individuelle Lernstile einzugehen. Ähnlich verhält es sich im Arbeitsleben: Wenn Arbeitsumgebungen oder Anforderungen nicht angepasst werden, haben neurodivergente Menschen oft Schwierigkeiten, ihre Fähigkeiten zu zeigen oder sich langfristig in einem Job zu etablieren.
Neurodiversität in Schulen und Unternehmen
Schulen und Unternehmen spielen eine Schlüsselrolle dabei, neurodivergenten Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr Potenzial auszuschöpfen.
In Schulen wird neurodivergenten Schüler oft eine defizitorientierte Sichtweise auferlegt, die ihre Schwierigkeiten in den Vordergrund stellt, anstatt ihre einzigartigen Stärken zu fördern. Ein stärkerer Fokus auf die individuellen Fähigkeiten aller Kinder kann das Schulerlebnis erheblich verbessern. Die einen Kinder bringen kreative Ideen ein, andere sind besonders stark darin, Muster erkennen zu können und wieder andere können besonders exakt arbeiten. Weg von der Defizitorientierung hin zur Stärkenförderung schafft nicht nur ein inklusiveres Lernumfeld, sondern hilft allen Schüler, ihr Potenzial auf ihre eigene Weise zu entfalten. Schulen könnten beispielsweise flexiblere Lehrmethoden einführen, die auf die unterschiedlichen Lernstile eingehen, um die Vielfalt im Denken als Ressource zu nutzen.
Unternehmen, die Neurodiversität fördern, profitieren erheblich von den einzigartigen Fähigkeiten neurodivergenter Mitarbeitender. Kreative Problemlösungen, unkonventionelles Denken und detailorientiertes Arbeiten sind nur einige der Stärken, die neurodivergente Menschen einbringen. Durch flexible Arbeitsbedingungen, sensorisch angepasste Arbeitsumgebungen und individuelle Unterstützung können Unternehmen ein Umfeld schaffen, in dem alle Mitarbeitenden ihr volles Potenzial entfalten. Diese Anpassungen fördern nicht nur neurodivergente Mitarbeitende, sondern verbessern das Arbeitsklima insgesamt und steigern die Innovationskraft.
Neurodiversität ist ein wichtiger Bestandteil menschlicher Vielfalt. Indem wir erkennen, dass es keine „richtige“ oder „falsche“ Art gibt, die Welt zu erleben und zu verstehen, schaffen wir eine Gesellschaft, in der alle Menschen ihr volles Potenzial entfalten können. Für Unternehmen und Organisationen bedeutet das, dass sie sich auf innovative Denkweisen und unkonventionelle Lösungen einlassen können, was letztlich ihre Wettbewerbsfähigkeit und Kreativität steigern wird. Eine neurodiverse Zukunft ist nicht nur inklusiver, sondern auch erfolgreicher.
Neuroinklusion: Die Revolution, die die Welt braucht?
Stellen wir uns eine Welt vor, in der jeder Mensch – egal, wie sein Gehirn funktioniert – sein volles Potenzial entfalten kann. Neuroinklusion ist keine nette Geste oder ein Bonus in der Diversity-Diskussion, sondern der Motor für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Unternehmen, Schulen und die Gesellschaft insgesamt verschwenden enormes Potenzial, wenn sie weiterhin versuchen, alle Menschen in eine Schablone zu pressen. Die wahren Innovationen, die großen gesellschaftlichen Durchbrüche, werden von jenen kommen, die anders denken, die Muster erkennen, wo andere nur Chaos sehen, und Lösungen finden, die das Alte in den Schatten stellen.
Die Zukunft gehört denen, die neurodivergente Menschen nicht nur tolerieren, sondern feiern. Schulen, die das kreative Potenzial ihrer Schüler erkennen, Unternehmen, die unkonventionelle Denker fördern, und eine Gesellschaft, die Anderssein als Stärke begreift – das sind die Orte, an denen die Revolution beginnt. Es geht nicht darum, neurodivergente Menschen „anzupassen“, sondern darum, unsere Strukturen so zu verändern, dass jede Denkweise Raum zur Entfaltung findet. Der wahre Fortschritt liegt in der Vielfalt der Köpfe. Die Frage ist nicht, ob wir Neuroinklusion umsetzen sollten – die Frage ist, warum wir so lange damit gewartet haben.
Für die Industry 5.0 brauchen wir ein Thinking 5.0 – ich bin davon überzeugt, dass Neurodiversität uns genau dieses neue Denken bringen kann – denn Standards können von AI übernommen werden, kreatives und innovatives Denken nicht.
Was können Sie tun?
Überlegen Sie, wie Sie in Ihrem Umfeld neurodivergente Menschen unterstützen können – ob als Arbeitgeber:in, Lehrkraft oder einfach als Mitmensch. Sensibilisieren Sie sich für die unterschiedlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten und schaffen Sie Raum für Vielfalt im Denken!